GedankenPlattform
Was hindert uns daran, in unserer Gesellschaft eine Kultur des Friedens aufzubauen?

1. Vision von einer Kultur des Friedens

Kennen Sie eine Gesellschaft, die ohne Gewalt existiert hat oder heute existiert?
Wenn ich in unsere Geschichtsbücher schaue, lese ich ständig von Kriegen, Machtwechseln, militärischen Kämpfen, Siegen und Niederlagen. Und meistens wird dabei von Männern erzählt. Zur Menschheitsgeschichte scheint Gewalt in den unterschiedlichsten Formen immer dazu zu gehören.
Allerdings ist mir auch keine Friedens-Geschichtsschreibung bekannt. Da müßten die Schwachen und Ohnmächtigen, die Frauen und die Randgruppen der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Wie, so frage ich mich, würde da unser 20. Jahrhundert dargestellt sein?

Hat bei dieser Realität eine Kultur des Friedens überhaupt eine Chance oder bleiben es nur schöne Wünsche und große Worte, wenn wir uns heute hier zusammen setzen unter dem Thema, eine Kultur des Friedens aufbauen zu wollen?
So, wie die Menschen für Gewalt und Kriege verantwortlich sind, gilt dies ebenso für den Frieden. Mehr Geld, Phantasie, Kraft und Kreativität könnten dafür noch eingesetzt werden. Denn, der Frieden muß immer wieder neu erkämpft werden. Er ist kein Gut, was einmal erreicht, nie wieder verloren gehen kann.
Lassen Sie uns zuerst überlegen, was wir unter Frieden überhaupt verstehen.
Frieden ist für uns die Abwesenheit des Krieges und das Schweigen der Waffen. Nach dieser Definition leben wir hier in Deutschland seit 1945 im Frieden.
Eine Kultur des Friedens zu leben bedeutet aber mehr.
Für manche ist Frieden Harmonie in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Abwesenheit von Konflikten.. Dabei werden häufig aus Angst Konflikte verdrängt oder geleugnet. Ich bin fest davon überzeugt, daß Konflikt nicht nur in unserem Leben sind, sondern wir sie auch zur eigenen Entfaltung brauchen. Andernfalls würden wir in unserer Entwicklung stagnieren. Denn bei jedem Konflikt wird unsere Entscheidung gefordert und gleichzeitig neue Chancen sichtbar.
Also nicht der Konflikt an und für sich verbindet sich mit Gewalt. Sondern die Art und Weise ihn zu lösen macht sichtbar, wie friedlich wir leben und selbst sind.
Nach den Friedenspädagogen Uli Jäger und Günther Gugel stellt sich Frieden als ein:
„zielgerichteter Prozeß dar, in dem es darauf ankommt, daß Menschen mit ihrem Engagement versuchen, Konflikte mit gewaltfreien Mitteln auszutragen und dabei Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratie zunehmend zu verwirklichen.“
Danach hat Frieden etwas mit Visionen und Engagement zu tun.

Frieden ist also kein Ziel, sondern ein Prozeß oder der Weg dorthin, wie Mahatma Gandhi es gesagt hat.

2. Kultur des Friedens beginnt in den Köpfen

Obwohl es uns leichter fällt und mehr Aufmerksamkeit bewirkt, wenn wir über Gewalttaten reden, sollten wir ganz bewußt den Frieden in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns stellen.
1945, kurz nach dem 2. Weltkrieg, wurde die Präambel der UNESCO-Verfassung geschrieben. Darin heißt es:
„Da Krieg in den Köpfen der Menschen beginnt, muß in den Köpfen der Menschen Vorsorge für den Frieden getroffen werden“
Laßt uns dies aufgreifen und in den Köpfen beginnen, aber wie?
Realistisch müssen wir wahrnehmen, daß es heute sehr schwer ist, Menschen für aktives Friedensengagement zu gewinnen. Solange sie selbst nicht bedroht oder persönlich betroffen sind, bleibt dafür kaum Zeit. Um uns vor größeren Enttäuschungen zu schützen, sollten wir deshalb auch realistische, kleine Schritte gehen. Dabei heißt das Ziel, Gewalt in unserer Gesellschaft zu minimieren.

Nachfolgend möchte ich fünf mögliche Punkte benennen.

2.1. Sensibel werden für Gewaltformen
Wir müssen sensibel und wach werden für die vielfältigen Formen von Gewalt in unserem Alltag.

2.2. Gewalt auch als Gewalt benennen
Es reicht nicht aus, Gewalt nur wahrzunehmen, sondern wir müssen sie auch deutlich als solche benennen. Dazu gehört es eventuell auch, traditionell gewachsene Tabus zu brechen.

2.3. Öffentliche Gewaltdarstellung kritisch wahrnehmen
Es geht nicht darum, Gewalt zu verharmlosen. Wir müssen uns aber kritisch mit Überbewertung oder Überhöhung von Gewaltakten in der öffentlichen Berichterstattung, z.B. Fernsehen oder Tageszeitung auseinandersetzen. Sonst besteht die Gefahr, daß individuelle Ängste verstärkt werden und Gewaltdrohungen verspürt werden, wo sie eventuell gar keine sind.

2.4. Bewußt Alternativen zu Gewalt suchen
Unsere Bereitschaft, wirklich etwas ändern zu wollen ist nötig,. Eine Kultur des Friedens aufzubauen braucht aber auch Vorbilder. So dürfen wir es nicht dulden, daß nur die gewaltvollen Taten in der Erinnerung fortleben, während die friedlichen Erfahrungen all zu schnell in Vergessenheit geraten.

2.5. Individuelles und politisches Handeln
Sicher kann ich im Kleinen, aus meiner persönlichen Betroffenheit heraus friedensengagiert tätig werden. Aber das wird bald ermüden, wenn daraus nicht auch ein politisches Handeln, gemeinsam mit anderen folgt.

3. Gewalterfahrungen gehören zum Alltag

Spätestens jetzt ist es nötig, uns über die vielfältigen Gewaltdefinitionen zu verständigen. Wenn wir von Gewalt reden, meinen mir meist etwas Negatives. Die legitimen Gewaltformen von Polizei oder Armee, eingesetzt zur Aufrechterhaltung einer allgemein gültigen Ordnung, werden dabei häufig ausgeblendet.
Bei Gewalt denken wir zuerst an die physische oder direkte Gewalt. Dabei sind die Folgen bei den betroffenen Personen als Körperverletzung bis zu Todesfolgen sichtbar. Täter und Opfer sind als Individuen erkennbar.

Es gibt aber auch Gewalt, die sich in psychischer Form zeigt und deren Folgen nicht so eindeutig einer Handlung zuzuordnen sind. Manchmal treten diese auch viel später auf. Die Opfer sind nicht mehr so direkt erkennbar und haben es letztlich auch schwerer, die gegen sie ausgeübte Gewalt öffentlich nachvollziehbar zu machen.
Solange der Täter aber noch bekannt ist, gehört auch diese Form zur personellen Gewalt. Nach Johan Galtung, einem norwegischen Friedensforscher, werden bei diesen Definitionen all die Gewaltformen nicht erfaßt, die Opfer, aber keine klar erkennbaren Täter haben.
Diese nennt er strukturelle Gewalt. Nach seiner Definition liegt sie dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß sie sich nicht so entwickeln können, wie dies eigentlich unter den gegebenen Umständen möglich wäre.“ Bei diesem weiter gefaßten Gewaltbegriff werden auch die gewaltverursachenden ungerechten Strukturen einer Gesellschaft mit einbezogen. Diese Überlegungen haben Galtung viel Kritik eingebracht, da er von einem sehr umfassenden Gewaltverständnis ausgeht. Anderseits löste die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Gewalt und Ungerechtigkeit auch berechtigte Ängste bei den Verursachern aus.
Sich bei Gewalt nicht nur mit den sichtbaren Formen abzufinden, ließ Galtung auch noch die Kategorie der kulturellen Gewalt einführen, die er als Legitimation für strukturelle oder direkte Gewalt versteht.
Das Gewalt unweigerlich mit Herrschaftstreben und Verlust von Macht zusammenhängt, drückt Iräneus Eibl-Eibesfeldt: in seiner Definition aus. Danach versteht er Gewalt als eine Form des Dominazverhaltens und des gewaltsamen Erzwingens einer Dominazposition.
Aber auch die Überlegungen von Thea Bauriedl, einer Pschoanalytikerin, möchte ich noch anfügen: „Gewalt können wir heute aus meiner Sicht...nicht mehr als Ausdruck eines Aggressionstriebes und auch nicht als Ausdruck des ewigen Widerspruchs zwischen Individuum und Gesellschaft verstehen. Als neue, kreative Alternative stellt sich für mich das Verständnis von Gewalt als Ausdruck einer gestörten Beziehung oder gestörter, destruktiver Beziehungsphantasien dar.“ (aus: Bauriedl, Thea (1992): Wege aus der Gewalt, Freiburg)
Bei allen Überlegungen wird deutlich, daß Gewalt immer als Form von schneller Konfliktlösung, aber auch als Reaktion auf eigene Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen eingesetzt wird. Allerdings löst Gewalt ständig wieder Gewalt aus. Es ergibt sich daraus ein Gewaltenkreislauf. Will man Gewalt minimieren, muß dieser durchbrochen werden.
Sich bewußt mit Alternativen zu Gewalt zu beschäftigen, setzt aber auch voraus, unsere eigene Gewalttätigkeit zu kennen. Wir müssen uns fragen, wie wir selbst mit Gewalt umgehen und wo und wie weit wir sie auch als Mittel akzeptieren können.
Nach diesen Vorüberlegungen, die deutlich machen, wie vielfältig die Definition für Gewalt verstanden wird, will ich Sie an vier Beispielen sensibel für Gewalt in unserer Gesellschaft machen.
Dabei greife ich Erfahrungen auf, die in den anschließenden Arbeitsgruppen weiter verfolgt werden können.



Kinder und Jugendliche
Gewalt verbinden wir meist zuerst mit Kindern und Jugendlichen. Sicher tritt sie auch bei dieser Gruppe am deutlichsten zutage, aber was steckt dahinter? Ich möchte Ihnen die Geschichte von Michael K erzählen. Er ist 16 Jahre alt und als farbiges Kind bei Adoptiveltern im Vogtland aufgewachsen. Nach mehreren Androhungen wird er in der 10. Klasse offiziell aus dem Gymnasium ausgeschlossen. Sein Verhalten läßt sich nicht mehr mit der Schulordnung in Einklang bringen. Mehrmals hat er Morddrohungen in Briefen an verschiedene Lehrer geschrieben, die nach dem Lehrerinnen-Mord von Meissen nicht mehr unbeachtet bleiben konnten. Außerdem konnte ihm nachgewiesen werden, sich in einer verbotenen Satanismus- Vereinigung zu engagieren. Als er den Ernst des Schulausschlusses wahrnimmt, begeht er einen Selbstmordversuch, indem er sich die Pulsader aufschneidet. Umbringen wollte er sich nach seinen Aussagen nicht, sondern nur auf sich aufmerksam machen.
Was ist in diesem Leben schon alles abgelaufen, um zu solchen Taten fähig zu sein?

Soziales
Edith S., eine Frau von 50.
Zu DDR-Zeiten leitete sie eine Verkaufsstelle der HO. Trotz zwei kleiner Kinder hatte sie sich über Frauensonderstudium qualifiziert. 1991 wurde die Geschäftsstelle geschlossen. Edith erhielt eine kleine Abfindung und ging zum Arbeitsamt, in der Hoffnung eine neue Tätigkeit vermittelt zu bekommen. Dort sagte man ihr aber nur „Sie sind zu alt“. Nun blieb für sie nur Langzeitarbeitslosigkeit, ABM und Aktion 55 bei verringertem Einkommen oder einfach Hausfrau-Dasein übrig. Als ihr Mann auch noch arbeitslos wurde, fürchtete sie sich vor dem drohenden materiellen Abstieg. Kurz nach der Wende hatte sich die Familie eine neue Küche gekauft, die noch nicht abgezahlt war. Plötzlich war Edith vom zunehmenden Wohlstand im Land abgeschnitten und fiel langsam in die soziale Isolation. Dazu fehlte ihr die gesellschaftliche Anerkennung, die sie in den Jahren davor in ihrem Betriebskollektiv erhalten hatte. Arbeitslosigkeit war für sie nichts zeitlich begrenztes mehr. Es wurde ein Dauerzustand in die langsame Armut. Auch bei den Behörden fand sie wenig Verständnis, sondern nur barsche Antworten auf ihre unsicheren Fragen. Sie schämte sich, eine ständige Bittstellerin zu sein und zog sich aus der Gesellschaft immer mehr zurück.

Frau und Mann

Maria L., Pfarrfrau, Anfang Fünfzig
Nach einer Kirchenversammlung kam ihr Mann nach Hause. Wie schon so oft in den zurückliegenden Jahren, gibt er ihr die Schuld für alle Kritik, die er in dieser Versammlung erfahren musste. Er beleidigt seine Frau und droht, sie zu schlagen. In seinem Zorn beginnt er sie sogar zu würgen, fügt ihr mit dem Schraubenzieher tiefe Wunden in der Brust zu. Zum Schluß vergewaltigt er sie mit den Worten: „Du bist meine Frau und ich verlange meine Rechte!“
Am nächsten Morgen, einem Sonntag, muß sie ihm seine Kleider bügeln und mit ihm in die Kirche gehen. Dort, so verlangt ihr Mann, soll sie um Vergebung beten, weil sie eine so schlechte Ehefrau sei.
14 Jahre lang hat sie diese Qualen mitgemacht, bis sie endlich ihre Familie verließ. Die Gemeinde wußte nichts davon und innerhalb der Kirche fand sie auch bei niemanden soviel Vertrauen, um von ihrer Not zu erzählen.

Gewinner und Verlierer
Wolfgang T., End-Vierziger, Pfarrerssohn
In der DDR trat er bewußter in die SED ein, um seiner Kariere nicht zu schaden. Als Diplom-Ingenieur arbeitet er in einem Großbetrieb. Nach der Wende wurde die ganze Abteilung abwickelte und er war arbeitslos, aber nicht pessimistisch. Wie so manche wurde er Versicherungsvertreter und Unternehmensberater. Nach mehreren Monaten brach er von sich aus ab. Er konnte es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren ständig andere Menschen hinters Licht zu führen, um eigenen Gewinn zu erzielen. Wieder war er arbeitslos. Dann verschuldete er sich hoch, um für seinen neue Berufstätigkeit einen eigenen Kleinbus kaufen zu können. Damit reiste Wolfgang kreuz und quer durch Deutschland und kaufte billig Kleidung auf. In anderen Teilen des Landes verkaufte er sie, frisch von ihm gebügelt, wieder. Lange ging auch dieses Geschäft nicht gut. Bald war er wieder ohne Arbeit und diesmal mit vielen Schulden belastet. Die nächste Berufstätigkeit endete mit der Pleite des neuen Betriebes.
Er wollte aber nicht unterliegen und forderte beim Arbeitsamt, auch wenn er dafür eigentlich schon zu alt wäre, einen Weiterbildungskurs als Informatiker ein. Dieses Jahr lohnte sich für ihn. Anschließend fand er in München eine Firma, die ihn mit seinem neuen Beruf einstellte. Sein Engagement und seine Flexibilität hatten sich gelohnt.

4. Hinderungsgründe, eine Kultur des Friedens aufzubauen



Die Beispiele zeigen, daß eine Veränderung hin zu einer Kultur des Friedens in unserer Gesellschaft nötig ist. Was macht es uns aber so schwer? Lassen Sie mich einige Punkte anreißen.

4.1. Unser Bedürfnis nach Sicherheit und fehlender Risikobereitschaft
Der zunehmende Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland hat über viele Jahrzehnte Lebensmodelle alltäglich werden lassen, in denen Erwerbsarbeit oder Besitz zu einer ständigen Vermehrung des Eigenkapitals führten und eine Sicherheit vorgaugelten. War die Berufstätigkeit beenden, sorgten Lebensversicherungen, Pensionen oder Renten für einen „gesicherten Lebensabend“. Auch wenn dieses ein Auslaufmodell für uns Ostdeutschen wird, bestimmt es doch zumindest unser Wunschdenken.
Die vielfältigen Versicherungsangebote vermitteln uns dazu noch immer das Gefühl, wir könnten uns gegen alles absichern, gegen Diebstahl, Unfall, gar Naturkatastrophen. Was nicht in diese Kategorie fällt, wird uns empfohlen, sollte wegen des unvorhersehbaren Risikos lieber unterlassen werden. Dazu kommt, daß wir aus DDR-Zeiten gewöhnt waren, daß andere, „die da oben“, für uns und über uns entschieden haben.
Leider sind Vorbilder für Risikobereitschaft häufig skrupellose wirtschaftliche Machenschaften und moralisch verwerflich, s. Baulöwe Schneider in Leipzig. Erst bekommt er Kredite, dann folgt der Ruin und Millionenschulden. Wo andere ihre gerechte Strafe erhalten, kauft er sich frei und erhält jetzt sogar noch mit seiner Autobiografie öffentliche Anerkennung.
Jeder einzelne von uns muß sich selbst fragen, wie sehr dieses Denken auch sein Handeln gegen Gewalt bestimmt.

4.2. unsere Scheu vor Konflikten

Harmoniebedürfnis und falsch verstandenes Konfliktverständnis läßt uns, gerade in christlichen Haushalten, schnell die wirklichen Konflikte zudecken, verlagern oder negieren. Immer wieder setzen wir Konflikt mit Gewalt gleich. Wir wundern uns, wenn ein lange schwellender Konflikt plötzlich bösartig ausbricht. Außerdem könnte die Bearbeitung zuviel Zeit von uns verlangen, die wir im Moment nicht haben.

4.3. zunehmende Sprachlosigkeit in den Beziehungen
Ermöglicht die Informationsgesellschaft einerseits einen breiteren und schnelleren Zugang zu umfassenden Informationen weltweit, führt anderseits die einseitige Beschäftigung mit den modernen Medien auch zu einer Vereinsamung. Übungsfelder zum Erlernen von fairer, individueller Kommunikation über unsere Sprache nehmen ab. Besonders kraß zeigt sich diese Sprachlosigkeit in Familien, wo ständig der Fernseher den Tagesablauf bestimmt. Man sitzt wohl noch nebeneinander, hat sich aber nichts mehr zu sagen.

4.4. Verlust an Einfühlungsvermögen
In unserer Konsumgesellschaft müssen wir uns ständig wieder fragen, welchen Stellenwert der Mensch noch besitzt. Die Kultur des Friedens baut darauf auf, daß ich mich selbst als Mensch auch mit meinen Fehlern annehme und in meinem Gegenüber, auch wenn es mein Feind ist, trotzdem noch das Ebenbild Gottes mit menschlichem Antlitz wahrnehme. Ideologien bedienen sich aus Angst oder Strategie Feindbildern, die Menschen entwürdigen und so schneller ihrer Vernichtung preis geben.
In der virtuellen Welt der Computerspiele können ihre Benutzer ganze Nationen oder Erdteile per Maus-clic ausrotten. Sie haben zu dieser unwirklichen Welt keine menschliche Beziehung aufgebaut. Wenn diese Spieler keine Möglichkeit bekommen, sich auch in der Welt der Opfer, der Geschlagenen, der Unterdrückten einzufühlen, wird ihre Empathie verkümmern. Auch in der realen Welt werden sie als Folge ohne Skrupel Gewalt anwenden.
Lassen Sie mich mit einer Geschichte des polnischen Schriftstellers Stefan Chwin enden. Er stellt dieser Tendenz das christliche Caritas-Prinzip entgegen und beschreibt es als historisches Erbe der Völker Mitteleuropas. An einem Erlebnis seiner Mutter erklärt er dies. Als Krankenschwester beim Warschauer Aufstand 1944 mußte sie erleben, wie Deutsche skrupellos Ärzte, Schwestern und Patienten ermordeten. Darauf schwor sie sich, keinen Deutschen in ihrer Nähe überleben zu lassen. Den ersten den sie danach traf, war ein blutender deutscher Soldat, der hilflos vor ihr auf der Straße lag. Anstatt ihn zu ermorden verband sie seine Wunden. Für sie lag da nicht der Feind, sondern ein schwacher Mensch, der ihre Hilfe benötigte. Soweit Chwim.

Mein persönlicher Wunsch wäre es, eine Kultur des Friedens aufzubauen, die damit beginnt in und vor Gewaltsituationen von der hilflosen Sprachlosigkeit zum beginnenden Stottern und Handeln zu gelangen.

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Fremdenfeinde: Strandgut deutscher Einheit

Rechtsextremistische Gewalttaten in Erfurt, Dessau und Eisenach, aber auch in Ludwigshafen und Düsseldorf sind Anschläge auf die deutsche Zivilgesellschaft. Dabei war nach 40 Jahren die nationalsozialistische Vergangenheit in der alten Bundesrepublik doch bewältigt worden. Aber die alte Bundesrepublik gibt es seit zehn Jahren nicht mehr: Ostdeutschland gehört zur Bundesrepublik und ist kein exterritoriales Gebiet, das durch den „Aufbau Ost“ gesponsert wird. Ostdeutschland, wie es heute besteht, ist nicht mehr nur das Resultat des Zusammenbruchs einer maroden Diktatur, sondern auch Resultat von zehn Jahren bundesdeutscher Einheitspolitik.

Denn es stimmt natürlich, dass der Rechtsextremismus auch im Osten seine Ursprünge hat. Nicht nur, dass der zur Staatsideologie erhobene Antifaschismus der DDR die Ostdeutschen von jeder persönlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust entband. Vielmehr brachten die autoritären Strukturen der DDR einen eigenen Extremismus hervor, zu dem auch Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gehörten. Das immense Defizit an demokratischer Entwicklung im Osten zeigt jetzt seine Wirkung und schlägt nach zehn Jahren Einheit als Herausforderung an die Zivilgesellschaft in der neuen Bundesrepublik zurück.

Im Osten fielen in den zehn Jahren die Angst vor allem Unbekannten und Fremden und die Fremdenfeindlichkeit mehr und mehr zusammen und bekamen eine politische Bedeutung, die auch auf eine nationalistische Selbstidentifizierung hinauslief. Um das „Eigene“ der kollektiven Selbstbestimmung in den Jahren nach der Vereinigung auszuprägen, wurde nicht nur eine neue Ostidentität erfunden. Man griff auch, eben um das Fremde abzuwehren, auf frühere (nicht nur nationalsozialistische) Formen des Antisemitismus und auch des klassisch-völkischen Nationalismus zurück.

Dieser Rückgriff auf fremdenfeindliches Gedankengut beschränkt sich keineswegs auf ostdeutsche Randgruppen. Mit der Auflösung der alten Grenzen des Kontinents versucht man auch in Ländern wie Frankreich, Belgien oder England, die „Wohlstandsfestung Europa“ vor nicht-europäischen Fremden zu verteidigen. Was in Deutschland augenfällig bleibt, ist jedoch die Brutalität dieser Bewegung. So zählte der Verfassungsschutz schon letztes Jahr 746 gewalttätige rechtsextreme Ausschreitungen. Fast die Hälfte der Taten wurden in Ostdeutschland und Berlin begangen, obwohl dort nur 21 Prozent der Bevölkerung Deutschlands leben.

Spätestens seit dem Anschlag auf russische Juden in Düsseldorf scheint sich eine neue Sensibilisierung deutscher Politiker durchzusetzen, die über die Äußerungen von „tiefen Entsetzen“ und „aufrichtigem Bedauern“ hinausgeht. War es dem Bürgermeister von Dessau noch ein „schwacher Trost“, dass die Totschläger nicht aus Dessau selbst kamen, so hat der Bürgermeister von Düsseldorf keine ähnliche Verteidigungsstrategie zur Imagespflege seiner Stadt geäußert.

Nicht zufällig sprach Außenminister Joschka Fischer davon, dass die Rechtsextremisten ins Zentrum der Demokratie zielen und an die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Es geht um mehr als nur darum, dass das Deutschlandbild im Ausland beschädigt ist, wenn der Ausdruck „German Skin“ nicht nur in Indien ein Begriff wird.

Immerhin kann es nicht schaden, wenn sich jetzt auch die deutsche Wirtschaft gegen die Fremdenfeindlichkeit stark macht, um die für den weiteren ökonomischen Aufschwung notwendige Offenheit des Landes für ausländische Investoren und für ausländische Spezialisten zu gewährleisten. Umgekehrt bedeutet dies nicht, dass rechtsextremistischer Mord- und Totschlag in der neuen Bundesrepublik ohne Druck der Wirtschaft von den staatlichen Institutionen und ihren Repräsentanten langfristig geduldet worden wären.

In jedem Fall geht der häufig bemühte Vergleich zu den späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahren an der Sache vorbei. Damals waren Rechts- und Linksextremismus eine Massenbewegung, deren Anhänger sich Straßenschlachten lieferten und um die Vormacht im Land kämpften. Insofern ist die gute Nachricht, dass sich die Demokratie in der Bundesrepublik auch zehn Jahre nach der Einheit als stabil genug gegen ihre extremen Ränder zeigt. Die herumstreunenden Skinheads von heute sind zwar definitiv gemeingefährlich; und sei es als SA, sei es als Rotfront, sie wären damals dabei gewesen. Aber damals ist vorbei.

Heute geht es um eine Randgruppe, die allerdings eine zweite Randgruppe, Ausländer, Obdachlose und jugendliche Punker zur Zielscheibe ihrer Aggressionen macht und dabei im Osten Deutschlands stillschweigend, oft auch nur widerwillig von vielen geduldet wird. Trotzdem kann von einer Stimmung „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ keine Rede sein. Bei den rechtsextremistischen Gewalttätern handelt es sich um Verlierer der Einheit mit dem politischen Verstand von nichtsozialisierten Jugendlichen – was allerdings an ihrer Gemeingefährlichkeit nichts ändert, im Gegenteil.

Wenn sich darüberhinaus auch zehn Jahre nach der Einheit eine Mehrheit der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlt, ist das ein „Frustpotential“, das an die gesellschaftliche Substanz gehen kann. Die Schwierigkeiten bei der Bewältigung deutscher Einheit liegen, wie man heute weiß, auch an der naiv-arroganten Übertragung bundesdeutscher Verhältnisse auf die zusammengebrochene DDR. Der teils absichtlichen, teils unabsichtlichen Demontage realexistierender Ostwirtschaft folgte insgesamt eine bundesdeutsche Arbeitslosigkeit von zuvor nicht gekanntem Ausmaß. Selbst wenn Rezepte für die Bewältigung von Staatszusammenbrüchen nirgends zu bekommen waren – die Wirtschafts- und Währungsunion war gewiss „keine reine Erfolgsstory“ (Wolfgang Thierse).

Die Marktübernahme 1990 trug zu dem Gefühl der Ungleichheit, aber auch zu „Unterwerfungshaltungen“ bei und förderte jene „Systemfeindschaft“, die zu Aktivitäten am rechten Rand der Gesellschaft beitrug. „Wir brauchen ein neues Leitbild der deutschen Einheit“, forderte Thierse – und bekam nur geteilten Beifall. Ohne einen tatsächlichen Aufschwung Ost wird das allerdings nicht zu haben sein. Ohne das staatsbürgerliche Engagement für den Erhalt der Zivilgesellschaft in der neuen Bundesrepublik aber auch nicht.

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Deutschland und sein Neofaschismus

Zwei Sätze über Wanderschaft und Exil

Emigration und Migration sind Worte, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung etwas Freundliches, Angenehmes, Weltoffenes benennen: das Auswandern und Einwandern, also ein Wandern, eine sportliche oder erholsame Tätigkeit, die uns zu einem gewünschten und frei gewählten Ziel bringt, eine durchaus lustvolle Tätigkeit, für die es eigens dafür gedichtete und komponierte Lieder gibt. Man führt dabei gewöhnlich Nahrungsmittel mit sich, die als Wegzehrung gedacht sind, nicht als Alimentation des verbleibenden Lebens. Und der Stock, den der Wanderer in der Hand hält, soll dem unbeschwerteren Vorwärtskommen dienen und ist nicht gedacht als Waffe zur Verteidigung von Gesundheit, Freiheit und Leben.

Wandern, das war, das ist die ursprüngliche Bedeutung dieser Worte, doch sie scheint uns gründlich abhanden gekommen zu sein. Der Emigrant, der Migrant weckt in uns nicht die Assoziation eines den Waldweg entlang ziehenden Wanderers. Längst verbindet sich mit dem Emigranten und Migranten das Vertriebensein. Es sind Menschen auf der Flucht vor einem bedrohlichen Schicksal, auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft, vertrieben dort, unerwünscht hier. Ihr Rucksack enthält kaum genügend Wegzehrung, um das Ziel erreichen zu können, und viel zu wenig Geld, um am Ankunftsort willkommen zu sein. Vor allem aber enthält er die falschen Papiere: zu wenig amtliche Dokumente, um einen Aufenthalt begründen zu können, die überdies befristet sind, so dass diese Wanderer am nächsten Morgen ihr Bündel zu packen und weiterzuziehen haben, denn das Boot ist wieder mal voll, und die Bänke an den Tischen sind längst besetzt. Statt der richtigen und nützlichen Papiere, statt einer unterzeichneten und gestempelten Genehmigung eines Staates und statt der köstlichen Niederlassungsgenehmigung für alle Staaten der Welt, der Banknote, haben diese Wanderer Papiere bei sich, mit denen sie Zeugnis geben wollen, Zeugnis von Bedrohung und Verfolgung, von Intoleranz und Hass, von Mord und Totschlag. Und statt der erwünschten Papiere, nach denen man sie fragte, legen sie ungebeten diese Blätter vor uns hin, verlangen sie, dass wir diese Zeugnisse lesen, um sie zu erkennen, wollen sie sich mit diesen Urkunden ausweisen.

Es sind schwer lesbare Papiere, bedrückende Texte, die wir nicht lesen wollen und inzwischen auch kaum lesen können, denn diese Literatur wirkt auf uns rückständig, zurückgeblieben und hat nichts von unserer inzwischen erreichten Kulturstufe, wonach Texte, wenn sie gelesen werden sollen, unterhaltsam zu sein haben, vergnüglich. Bücher müssen uns Spaß bereiten oder gelten als Makulatur. Wir haben eine Kultur des puren Amüsements erreicht, die wir nicht aufgeben wollen, da stören uns, verstören uns diese Berichte, und wir wehren uns, indem wir sie nicht wahrnehmen. Diese uns vorgelegten Zeugnisse sind, das wollen wir keineswegs bezweifeln, wahr und wichtig, die bezeugten Schicksale sind unstrittig und aller Ehren wert, die sie auch bekommen sollen, aber darüber hinaus wollen wir damit nicht behelligt werden und schon gar nicht soll es unsere Zeit und Aufmerksamkeit kosten.

Wir haben sogar eine gewisse Sensibilität für diese Leute und ihre Berichte, denn vor vielen Jahren, in einer grauen Vorzeit, waren, wir erinnern uns dunkel, einige aus unserem Volk in einer vergleichbaren Situation, doch schon damals waren sie uns lästig. Nun aber haben wir eine Demokratie, die wir als stabil und gefestigt bezeichnen, und eine moderate Lebensweise entwickelt. Wir sind gegen die Umwelt und gegen die Natur, selbst gegen die eigene Natur, versichert, und Schicksal nehmen wir nur als gleichfalls rundum versichertes Adventure in Anspruch, als einen Abenteuerurlaub, der uns umso deutlicher die erreichten Sicherheiten erkennen lässt. Noch haben wir den Tod und ein paar Krankheiten nicht eliminieren können, da sind noch ein paar Bausteine des Lebens zu entschlüsseln, bevor wir völlig unbeschwert uns einem dann tatsächlich unendlichen Vergnügen hingeben können. Doch auch solange wir noch von Sterblichkeit bedroht sind, wollen wir uns lieber zu Tode amüsieren als zu Tode langweilen. Und diese Wanderer und ihre Zeugnisse langweilen uns. Es sind gewiss gute Menschen und tapfere Kämpfer, sie haben viel hinter sich und ebenso sicher noch viel vor sich, sie wurden vom Schicksal geschlagen, und das ist leider nicht sehr amüsant, nicht amüsant genug, um uns zu interessieren.

Diese Emigranten und Migranten sind keine Wanderer, mit denen wir uns gern zu einem Bier setzen, um uns mit ihnen zu unterhalten. Ihrer Wanderschaft ist das Brandzeichen der Verbannung aufgeprägt, es sind Exilsuchende, das erschwert uns die Verständigung mit ihnen, denn wir haben unser Leben auf einen anderen Ton eingestimmt. Wir achten diese Menschen und sind bereit, sie zu ehren, aber darüber hinaus ist es wünschenswert, sie aus unserem Leben zu halten. Wir sind sogar bereit, sie finanziell etwas zu unterstützen, wir sind keine Unmenschen und überweisen fast gern eine kleine Summe auf ein angegebenes Konto. Doch schon mit Dankesbekundungen ihrerseits bitten wir, uns zu verschonen. Exil ist ein Stigma und kein Entrée. Unser eigenes Leben ist schwierig genug, wir haben Mühe, es erfolgreich oder auch nur hinreichend zu überstehen und können uns daher nur sehr eingeschränkt noch um andere kümmern, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, selbst unterzugehen.

Das 20. Jahrhundert hat uns mit verschiedenen Grundsätzen und Lebenskonzeptionen konfrontiert, von denen die meisten scheiterten und heute nur noch lächerlich sind. Eine einzige Lehre hat sich als beständig und dauerhaft erwiesen, und wir haben diese Lektion gelernt, die da lautet: für alle reicht es nicht. Auch Almosen und Krümel sind ein Teil jenes Kuchens, vor dem so viele Esser hocken und darauf warten, ihren Teil zu bekommen. Auch die Krümel, hat ein Kassensturz ergeben, werden nicht für alle reichen.

Diese Wanderer suchen ein Exil, sie brauchen ein Exil, sie werden es bei uns nicht finden. Wir werden ihnen ein sicheres Drittland nennen, in dem sie ihre nutzlosen Papiere vorlegen können. Aber die Wanderer sollten sich keinen Illusionen hingeben: dieses sichere Drittland existiert so real wie der Dritte Weg, es ist eine Landschaft auf der Weltkarte Utopia, auffindbar mit dem Kompass Prinzip Hoffnung. Das Ziel dieser Wanderer ist ein Ort für ihr Exil, der Weg wird ihr Schicksal sein.

Wo und wann beginnt das Exil? Der Fluchtort ist das Ende, der Anfang aber liegt in einem ganz gewöhnlichen Leben, einer gewöhnlichen Stadt mit gewöhnlichen Leuten und beginnt unübersehbar und erkennbar an dem Tag, an dem einer »Der da« sagt und mit dem Finger auf jemanden zeigt und andere diesen Ruf aufnehmen und diesen einen auszugrenzen beginnen, weil er »auffällig« ist, aus rassischen oder religiösen Gründen, aus ideologischen oder kulturellen.

»Wenn man sich in der Schule prügelt, ist das in Ordnung«, sagte Ivan Nagel, »wenn man von drei, vier Mitschülern einmal in der Woche als Jude verprügelt wird, verletzt das Wort tiefer als die Schläge.«

Von diesem Schulhofstreit, noch unentschlossen schwankend zwischen bösartiger Schülerlaune und einem sich verfestigenden, irrationalen Hass, führte eine direkte Linie zu Mord und Völkermord, führt der Weg noch heute zu tödlichem Hass, zu Totschlag und Mord.

Doch noch bevor jemand den Finger ausstreckt und eine Person oder eine Gemeinschaft verstößt, ausstößt, zum Paria erklärt, muss es eine Ursache geben, eine Quelle, einen bewegenden Grund. Sicherlich sind es keine glücklichen, keine mit sich zufriedenen Menschen, die so viel Hass in sich tragen und ihn ausleben müssen. Es sind Unglückliche, die einen Schuldigen für ihr Unglück suchen, und sie sind nicht fähig oder nicht bereit, bei dieser Suche einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen. Sie brauchen eine andere Person, eine Menschengruppe, sie brauchen einen Mitmenschen, in dem sie die Ursache ihres Unglücks ausmachen können.

In Deutschland machen sich wieder Rassismus und Ausländerhass bemerkbar. Geradezu regelmäßig und fast wöchentlich werden Gewaltakte und auch mörderische Übergriffe gegen Personen gemeldet, die als nicht zu unserem Land und unserem Volk gehörig, als fremd empfunden und bezeichnet werden. Die Politiker und die Parteien sind besorgt. Gesellschaft und Medien haben sich auf eine Erklärung verständigt, wie dieses fatale Aufleben von überwunden geglaubten faschistoiden Haltungen zu bewerten sei, ohne selbst Schaden zu nehmen. Der Rechtsradikalismus und die Fremdenfeindlichkeit gelten ihnen als ein Problem Ostdeutschlands, einer zurückgebliebenen Region des Landes, mit der man wenig, mit der man eigentlich nichts zu tun hat.

Richtig ist, dass es erschreckend viele Gewalttaten im Osten gibt, dass hier ein Komplex von Minderwertigkeit und Zweitrangigkeit, gespeist durch Arbeitslosigkeit, durch Gefühle von Deklassierung, durch Demütigungen und durch Orientierungslosigkeit diesen Rechtsradikalismus förderte. Und diese Jugendlichen haben eine Erfahrung gemacht, die wir ihnen nicht ausreden, nicht wegreden können, die zwiespältig ist und bedrückend. Plötzlich, sagen sie, werden wir akzeptiert, man nimmt uns ernst. Zum ersten Mal werden sie ohne Herablassung oder entwürdigendes Mitleid wahrgenommen. Sogar mit Furcht und Entsetzen, so sehr respektierte man sie, seit sie das Land und die Medien und das Ausland beunruhigen. Jetzt haben wir gleiche Augenhöhe, sagte einer zufrieden, endlich.

Investoren wurden verschreckt, hieß die alarmierende Meldung der Politik und der Wirtschaft. Ich fürchte, diese Schreckensmeldung wird bei den Rechtsradikalen eher als Triumph gefeiert. Wurden aber nur Investoren verschreckt und abgehalten, nach Deutschland zu kommen? Eine Meldung »Asylsuchende wurden verschreckt« las ich nirgends, doch sie, die allerersten Opfer dieser Gewalt, werden doch auch entsetzt reagiert haben. Fehlte die Meldung »Asylsuchende wurden verschreckt«, weil es eine Abschreckung wäre, die in Deutschland weniger Empörung auslösen würde, möglicherweise sogar »klammheimliche Zustimmung«?

Die fremdenfeindlichen Übergriffe sind durchaus nicht auf Ostdeutschland beschränkt, und es ist unsinnig und heuchlerisch, es ist verlogen, ein gesamtgesellschaftliches Problem zu einer lediglich regionalen Schwierigkeit ummünzen zu wollen. Auch aus westdeutschen Kommunen kommen regelmäßig solche Meldungen. Mehr noch, Struktur und Aufbau, die gesamte Logistik, die entsprechenden Parteien und der Parteienapparat kommen aus der ehemaligen Bundesrepublik. Die Neonazis hatten lediglich vor den Politikern begriffen, dass sich im Osten ein Potential an Selbsthass und Selbstverachtung aufbaute, hervorgerufen aus Demütigung und Entwürdigung. Hier konnten ihre Parolen schneller und durchdringender greifen, als in dem wirtschaftlich stabileren Westen. Die Neonazis erkannten rasch, dass in den blühenden Landschaften von Frustration ihre Saat gut sprießen kann. Wenn nun schönfärberisch die Gewalttaten im Westen übersehen und als Einzelerscheinung abgetan werden, wenn der Rechtsradikalismus als peinliches Problem Ostdeutschlands ausgemacht wird, mit dem die eigentliche Bundesrepublik nichts zu tun hat, peinlich vor allem der Reaktionen des Auslands wegen, dann ist man wohl weniger bereit, sich dem Problem zu stellen und es offen anzugeben, als es rasch zu verstecken, in einer Schmuddelecke abzulegen, mit der man recht eigentlich nichts zu tun hat. Dann könnte unter der Hand, unter diesem Teppich des Selbstbetrugs in Deutschland etwas heranwachsen, was nicht nur Investoren abschreckt.

Bevor jemand einen vermeintlich Schuldigen ausmacht, auf ihn weist und ihn ausgrenzt, muss es eine Bereitschaft für diese Ausgrenzung geben, muss es Demütigung und Entwürdigung geben, die zu Selbsthass und Selbstverachtung führen, die schließlich den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit erzeugen.

Wie kommt es zu Antisemitismus in deutschen Ländern, in denen kaum noch Juden leben? Wie kommt es zu Fremdenfeindlichkeit selbst in Gegenden, wo fast keine Ausländer wohnen? Wie fokussiert sich ein anfangs undeutliches, eher dumpf brodelndes als bewusst begriffenes Gefühl auf eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft? Elternhaus und Umfeld, heißt es, würden die Jugendlichen in eine bestimmte Richtung lenken. Das mag sein, die deutschen Stammtische, die Stammtische in ganz Deutschland waren gewiss nicht die Wiege und sind nicht der Hort von Aufklärung und Toleranz. Möglicherweise liegt hier eine der Ursachen, brodelt das gesamte zwanzigste Jahrhundert mitsamt der faschistischen Ideologie noch immer unter dem Boden unserer Demokratie.

Gelegentlich zeigen sich ein paar Blasen dieses eruptiven Gemisches, kommen ein paar Wortfetzen und Sätze an die Oberfläche, die uns die dünne Decke deutlich machen, auf der wir uns bewegen. Wenn wir die Protokolle des Bundestages und der Landesparlamente aus den letzten Jahrzehnten durchgehen, nähern wir uns den eigentlichen Anfängen dieser Entwicklung, die uns heute beunruhigt. Von diesen höchsten Volksvertretern kamen jene Wortschöpfungen, die sich in unserer Alltagssprache festsetzen, Eingang in unsere Gesellschaft fanden, Worte wie »Asylanten« und »Sozialschmarotzer«. Von ihnen kamen die Parolen »Deutschland ist kein Einwandererland« oder »Kinder statt Inder«. Hier, in den Protokollen der ehrenwerten Volksvertreterversammlung und der Staatsgewalt finden wir die Samenkörner jener Saat, die jetzt in Deutschland erblühte.

»Geht einmal euren Phrasen nach«, heißt es bei Georg Büchner, »geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.«

Die gleichen Leute, die diese Parolen und Sprüche unter das Volk brachten, zeigen sich nun erschreckt und denken über ein Verbot rechtsradikaler Parteien nach. Es mag vorkommen, dass ein Landwirt im Spätsommer über die aufgegangene Saat erschrickt, die er im Frühjahr selbst aussäte, aber dann ist das ein schlechter Bauer, der nicht zu wirtschaften versteht und falsch am Platz ist und ihn räumen sollte.

Ich weiß nicht, ob ein Parteienverbot die Probleme einer Gesellschaft lösen kann, ob sie wirklich verschwinden, wenn man sie hinter Gitter bringt. Möglicherweise will man diese Parteien auch nur verbieten, um die Stimmen jener Wähler zu bekommen, an deren staatsbürgerlicher Meinung man schließlich beteiligt war.

"Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden."

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Die Bekämpfung des Rassismus erfordert auch Gewissenserforschung eines jeden

Begriffe wie "Rechtsextremismus", "rechte Gewalt", "Neonazis" u.ä. enthüllen und verdecken zugleich: Sie enthüllen zutiefst menschenfeindliche Haltung in Gedanke, Wort und Tat, die zur erschreckenden Wirklichkeit in unserer Gesellschaft gehört; sie verdecken den Umstand, dass diese Haltung längst ihren Platz auch in der gesellschaftlichen "alten" und "neuen" Mitte gegriffen hat.

Dies zeigt sich besonders in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wenn wichtige politische und gesellschaftliche Kräfte in Deutschland jahrelang entsprechende Tendenzen in öffentlicher Rede und Gesetzgebung nährten bzw. Warnungen auch der Kirchen verharmlosten oder gar nicht zur Kenntnis nahmen, dann dürfen sie sich nicht wundern, dass Gegensteuerung jetzt so überaus schwierig ist.

Für Christen ist eines eindeutig: Theologisch ist "Rassismus" die Negation des Wertes der menschlichen Person – des Wertes, der in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ausgesagt ist - und damit Negation Gottes, nach dessen Absicht alle Menschen prinzipiell und substantiell gleichwertig sind.

Es ist seltsam: Kaum ein Mensch, der nicht abstreiten würde, "Rassist" oder von "Rassenvorurteilen" bestimmt zu sein, d.h. von der irrigen Vorstellung einer biologisch bestimmten Überlegenheit über andere (wie auch die Genforschung inzwischen widerlegen konnte) – und doch ist Rassismus in unserer Gesellschaft derartig präsent, dass inzwischen auch höchste politische Stellen erkannt haben, dass er nachhaltig überwunden werden muss.

Dabei ist Rassismus nicht nur dann eine Gefahr, wenn er sich offen manifestiert und gerichtlichem Beweis zugänglich ist. Vielmehr besteht die ganz eigene Gefährlichkeit des Un-Geistes "Rassismus" darin, dass er in der Regel nicht zu fassen oder doch ganz schwer nachzuweisen ist. Rassismus versteckt und verkleidet sich im persönlichen Verhalten - z.B. wenn es jemand vorzieht, in einem vollen Bus lieber zu stehen, als sich auf den einzig freien Sitzplatz neben einen Afrikaner zu setzen; er verbirgt sich im Gewand politischen Kalküls beispielsweise bei Abfassung und Ausführung asylrechtlicher Vorschriften oder bei Überlegungen über "kriteriengeleitete" Zuwanderungsregelungen; er wirkt sich aus auf dem großen Schattenarbeitsmarkt für sogenannte Illegale, der die ohnehin ausbeuterischen Löhne auch noch nach der Hautfarbe der Beschäftigten staffelt.

Der neuerdings zu beobachtende Politikwechsel, damit verbunden die Bereitstellung öffentlicher Mittel zur Bekämpfung von Rassismus, staatliche "Aussteiger-Programme" für "Neonazis" usw. sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie genügen aber nicht, solange sie nicht durch eine selbstkritische Reflexion aller in unserer Gesellschaft ergänzt werden. Nicht nur für Christen heißt dies: "Gewissenserforschung".

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Die rechtsradikale Szene in der DDR

Wir machen weiter! Wir sind Rebellen und dienen einer gerechten Sache. Skins voran. Wir sind Elite. Terror gegen Terror. Die Rache ist unser, denn Rache ist gerecht. Wir stehen wie ein Bollwerk, wie eine eiserne Wand schaffen wir es. Alle zusammen. Mann für Mann. ... So wie sie gegen uns sind dürfen sie nichts anderes erwarten, als das Blut fließt. Ihres und Unseres. ... Wir sind die Götter. Und wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Immer mehr werden sich zusammenraffen. Sie werden uns einsperren, sie werden uns zermürben, aber kapitulieren werden wir nicht und wenn es Rückschläge gibt, für uns ist es das Stahlbad das die starken zurückläst und die schwachen vernichtet. Übrig bleibt der kern."

Bemerkenswert an diesem Text sind nicht allein sein Inhalt und seine eigenwillige Rechtschreibung. Es handelt sich um Teile eines Kassibers, der von einem 23-jährigen Nazi-Skinhead aus dem Gefängnis an seinen "Gauleiter" geschmuggelt werden sollte. In Ost-Berlin, Hauptstadt der DDR. Er stammt aus dem Herbst 1988.

Das war zu einer Zeit, als Neo-Faschismus und Rechtsradikalismus in der DDR offiziell nicht existierten, als die bloße Existenz der DDR schon der Beweis für den zutiefst anti-faschistischen Charakter der DDR-Gesellschaft war. Seitdem sind die Dinge weiter in Bewegung gekommen. Die rechte und rechtsradikale Szene in der DDR hat seit der "Wende" in der DDR und der Öffnung der Grenze einen bemerkenswerten Aufschwung genommen. Sie reicht von unorganisierter Ausländerfeindlichkeit über Parteien wie die Republikaner bis hin zu bewaffneten Faschistengruppen. Diese Entwicklung wird durch Hilfe aus dem Westen gefördert, aber sie ist in der DDR selbst entstanden und hat sich seit Anfang der achtziger Jahre entwickelt.

Die rechte Szene in den 80er Jahren

Die ersten Kerne einer rechtsradikalen Szene ließen sich in der DDR etwa seit 1980/81 beobachten. Dies soll nicht implizieren, daß es auch zuvor keine radikal rechten oder sogar neo-faschistischen Tendenzen in der DDR gegeben habe - organisiert oder politisch relevant waren sie aber bis zum Ende der siebziger Jahre nicht. Rechtsradikalismus blieb bis zu diesem Zeitpunkt sozial unauffällig, eher eine "Privatsache", der man im Familien- oder Bekanntenkreis anhing. In der DDR datiert man den Beginn des strafrechtlich relevanten Neo-Nazismus und verwandter Aktivitäten offiziell auf 1981, und diese Terminierung kann durchaus als realistisch angesehen werden.

Der Beginn rechtsradikaler Tendenzen zu Anfang der achtziger Jahre speiste sich aus zwei miteinander verknüpften Phänomenen: jugendlichen Freundescliquen und Fußballfans. Es handelte sich also nicht von Beginn an um ein organisiertes politisches Handeln, eine reflektierte politische Ideologie war in dieser Phase noch sehr unterentwickelt oder fehlte ganz. Junge oder sehr junge Leute mit starkem Gruppengefühl und diffusem, noch ungerichteten politischem und sozialen Unbehagen fingen an, in Opposition zur DDR-Gesellschaft und in Protest gegen bestimmte gesellschaftlichen Minderheiten oder konkrete Mißstände rechte oder rechtsradikale Parolen zu rufen und, nicht selten unter Alkoholeinfluß, Sachbeschädigungen oder Schlägereien anzuzetteln.

Die Skinheads

Ein Papier der DDR-Kriminalpolizei (bzw des Innenministeriums) formulierte Anfang dieses Jahres: "Aus diesen Kreisen Jugendlicher rekrutierten sich etwa seit 1982 Skinheads, die mit nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Parolen auftraten und aus solchen Motivlagen bei verschiedenen Gelegenheiten, insbesondere Sport- u.a. Veranstaltungen lokal öffentlichkeitswirksam Straftaten begingen" - wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß diese Skinheads im Verlauf der achtziger Jahre eine deutliche Weiterentwicklung durchmachten, was ihren Organisationsgrad, ihre interne Differenzierung und ihre Ideologie betrifft.

Ein anderes Papier ("Studie über Erkenntnisse der Kiminalpolizei zu neofaschistischen Aktivitäten in der DDR") aus der gleichen Zeit hat insbesondere die Skinheads soziologisch untersucht und auch deren Ideologie zum Gegenstand gemacht. Diese Studie hat umfangreiches Material (z.B. 1800 Verhörprotokolle, Zeugenaussagen und andere Befragungen) vom Herbst 1987 bis zum November 1989 ausgewertet.

Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die Nazi-Skins insgesamt geschafft haben, sich aus den diffusen und "private" Cliquen zu einem Organisationsgrad zu entwickeln, der auf der einen Seite nach innen (also innerhalb einzelner Gruppen) durch oft straffe Führung gekennzeichnet ist, andererseits aber auch Kommunikationsstrukturen und Zusammenarbeit auf Landesebene und sogar darüber hinaus (in die BRD, nach Ungarn, das Baltikum, etc.) umfaßt. Das Organisationsniveau der Skinheads ist dabei weiter uneinheitlich, es schwankt zwischen noch existierenden Cliquen ohne landesweite Vernetzung (z.T. "Schmuddelskins" genannt) und einer verdeckten zentralen Kommandostruktur.



"Skinhead-Gruppierungen haben seit 1985/86 die am besten entwickelten Organisationselemente, aber nur ein Teil den Anhänger ist in stabile informelle Gruppen eingebunden. ... Die Beziehungen innerhalb der einzelnen Gruppierungen beruhen auf persönlichen Bekanntschaften, also auf Direktkontakten zwischen Personen, vermittelt durch ein fixiertes Minimum an gemeinsamen Interessen."

Die Ideologie der Skinheads gruppierte und gruppiert sich um die Propagierung traditioneller "deutscher Werte" wie Fleiß, Sauberkeit und ähnlichem. Ein 18-jähriger Bauarbeiter formulierte: "Ich gehe regelmäßig meiner Arbeit nach und bin der Meinung, daß ich fleißig bin und eine gute Arbeit leiste. Das ist der Punkt, der einen echten Skin auszeichnet. ... Insgesamt sind wir fleißig und können Arbeitsbummelei und Schmarotzertum nicht ausstehen. ... Ich bin dieser Gruppierung zugehörig, um wieder mal Ideale zu schaffen. Ich meine damit Zucht und Ordnung einkehren zu lassen und aufrechte, harte Menschen zu erziehen." Ein Lehrling ergänzt: "Ich finde auch solche Dinge wie Kameradschaft und Disziplin gut. Ich bin einfach der Meinung, daß in einem Staat Ordnung herrschen muß und nicht Anarchie. Deshalb lehne ich Punks ab. Die könnten auch in der Mülltonne leben. Ich bin der Meinung, daß man ordentlich lernen soll, einen Beruf erlernen muß und regelmäßig arbeiten geht."

Faschos

Ausgehend von diesen Vorstellungen von Recht und Ordnung, Fleiß und Sauberkeit entwickelte sich im Verlauf der achtziger Jahre eine ideologische "Verfeinerung". Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und insbesondere eine entwickelte neo-faschistische Ideologie traten stärker hervor. Im Zuge dieser Weiterentwicklung bildete sich vermutlich 1987/88 aus den Skins eine weitere Strömung heraus, die sich selbst als "Fascho" bezeichnete. Diese systematisierte die Ideologie im Sinne des klassischen Faschismus, wobei sich eine Vorliebe für den ehemaligen Strasser-Flügel der NSDAP abzuzeichnen scheint. Diese Faschos sind heute die ideologische und organisatorische Elite des harten Kerns der Rechtsextremismus in der DDR. Sie verfügen über ein entsprechendes Elitebewußtsein und haben sich in ihrem Auftreten von den Skinheads abgesetzt: unauffällig und äußerlich angepaßt nach außen, streng konspirativ nach innen.

Diese äußere Anpassung bezog sich zum Ende der 80er Jahre nicht nur auf die Faschos, sondern partiell auch für einen Teil der Skinheads. Diese hatten bis Anfang 1988 versucht, den "offiziellen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen" (FDJ, FDGB, etc.) der DDR fernzubleiben oder auszutreten. Dies änderte sich im Laufe des Jahres, was zwar nicht die gesamte Skinheadszene betraf, aber doch umfangreich und flächendeckend genug war, um als zentrale Strategie erkennbar zu werden. Das war nicht alles. Im DDR-Innenministerium wird vorsichtig über die Infiltrationsversuche von Skins und Faschos in Polizei und Militär berichtet. "Ausgehend von der Orientierung von Anhängern rechtsradikal-neofaschistischer Gruppierungen auf Dienstverhältnisse in der Volkspolizei, der NVA und der Zollverwaltung, kann nicht sicher ausgeschlossen werden, daß in diesen Organen schon jetzt Anhänger und Sympathisanten tätig sind."

Anzeichen für rechtsautoritäre und sogar faschistoide Tendenzen in Volkspolizei, Stasi und NVA wurden kürzlich von Manfred Behrend vom Ost-Berliner IPW erwähnt, und auch verhaftete und mißhandelte Demonstranten aus dem Oktober 1989 berichteten von entsprechenden Beobachtungen, etwa rassistischen Beschimpfungen.

Neo-Faschismus hausgemacht

Die Regierung der DDR hatte bis zu ihrem Fall im Herbst rechtsradikale und neo-faschistische Tendenzen in ihrem Land stets ignoriert, geleugnet oder auf den ideologischen Einfluß des Westens zurückgeführt. Solche Erscheinungen hätten in der DDR keinen Nährboden, sie seien ausschließlich importiert. Diese Position war nicht nur sachlich falsch, sie war zugleich politisch verharmlosend und gefährlich, gerade weil sie mit großem anti-faschistischen Gestus vorgetragen wurde.

Rechtsradikale Ideologien bis him zum Neofaschismus sind und werden noch immer von westlichen Gruppen gefördert. Dies wäre aber ein völlig aussichtsloses Bemühen, wenn es in der DDR keine dafür günstigen Auftreffbedingungen gäbe. Der Dokumentarfilmer und Mitbegründer von "Demokratie Jetzt", Konrad Weiß, hatte im März 1989 in einem Aufsatz diese Probleme untersucht. Dabei betonte er, daß die politische Kultur der DDR in weiten Teilen autoritären und rechten Ideologien entgegenkommen.

"Nicht Originalität und Innovation haben den höchsten Stellenwert, sondern Unterordnung und Konvention. Nicht Widerspruch und Kritik sind wirklich geschätzt, sondern Anpassung und Duckmäusertum. ... Die kommunistische Kaderpartei beförderte nicht die Entwicklung demokratischer Tugenden, sondern schuf ein System neuer Privilegien zur Belohnung von Maulheldentum, Untertanengeist und und Parteidisziplin. Das Führerprinzip, das sich für die Deutschen als verhängnisvoll erwiesen hatte, erlebte unter anderem Vorzeichen eine Renaissance: erst der Stalinkult, dann der unbedingte Anspruch der kommunistischen Partei, Avantgarde und Vorhut zu sein. Eine basisdemokratische Kontrolle der Mächtigen und ihrer Organe gab es nicht und wird bis heute nicht geduldet. ... All das ist nicht Faschismus. Aber die grundsätzliche Bejahung von Gewalt und der Mangel an demokratischer Kultur haben den Propagandisten der neuen faschistischen Bewegung ein leicht zu beackerndes Feld bereitet. Menschen, die hierzulande aufgewachsen und in unseren Schulen erzogen sind, sind ungenügend gegen den Bazillus (rechts-)radikaler Ideologien immunisiert."

Damit ist ein Teil des Problems benannt, aber noch nicht alles. Um politisch im rechtsradikalen Sinne wirksam werden zu können, mußten zwei weitere Faktoren hinzutreten: einmal das ökonomische Scheitern der SED, die das Land weitgehend verfallen ließ. Von einer ausreichenden Erfüllung auch berechtigster materieller Bedürfnisse der Bevölkerung konnte nicht die Rede sein, was sich politisch zunehmend niederschlug. Zweitens wurde diese wirtschaftliche Stagnation flankiert von einem Maß an Bevormundung, Bespitzelung und Repression, das aus wirtschaftlicher Unzufriedenheit bald politische Apathie und dann offenen Haß werden ließ. Dieser Haß gegen SED und (in gewissem Sinne) DDR schlummerte unter der Oberfläche von Resignation und Opportunismus, bis er 1989/90 offen hervorbrach.



Vor diesem Hintergrund einer politisch und ökonomisch bankrotten Staatsführung mit weiterem Allmachtsanspruch gewannen rechte, rechtsradikale und neo-faschistische Ideologien gerade bei jungen Leuten (meist Männer) an Attraktivität. Ein früherer Fascho und jetzige REP aus Ost-Berlin erklärte, daß er sich aus einem Hauptgrund den Faschisten angeschlossen hatte: es seien die konsequentesten Anti-Kommunisten gewesen. Wenn die SED die Nazis so hasse, dann müßte doch etwas gutes dran sein. Rechtsradikale und faschistische Reden und Symbole waren in einer (individuellen oder kollektiven) Übergangsphase nur Mittel, seinen Protest gegen die SED und Stasi auszudrücken, der Versuch, provokativ seinen völligen Bruch mit dem System zu symbolisieren. Anschließend entstand dann oft ein Begründungsnotstand zu erklären, warum man statt "SED ist Scheiße" ausgerechnet ein Hakenkreuz gesprüht hatte. An dieser Stelle setzte dann eine Ideologisierung der eigenen Handlungen ein, der Versuch, die eigene Provokation nun in einen politischen Rahmen zu stellen und die Ansätze eines eigenen Konzeptes zu entwickeln. Und genau hier wurden dann die von Konrad Weiß beschriebenen Mechanismen wirksam, die eine Fundamentalopposition eher nach rechtsaußen, als nach links verschoben.

Die Grenze ist offen

Nach der Öffnung der Grenze und den anderen politischen Veränderungen seit Anfang November 1989 änderten sich die Bedingungen, unter denen Rechtsradikale in der DDR operieren konnten, schlagartig. Dabei erwiesen sich drei Faktoren als von besonderer Bedeutung. Erstens: die allgemeine politische Öffnung mit ihrer neuen Rede- und Versammlungsfreiheit erweiterte den politischen Spielraum aller Parteien, und damit auch der radikalen Rechten. Zweitens: Die Grenzöffnung erleichterte die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit Gesinnungsfreunden im Westen. Und drittens: das neue politische Klima in der DDR, insbesondere der nationale Taumel um Wiedervereinigung und Westmark erweiterten den Spielraum und vergrößerten die Legitimität nationalistischer Parolen von ganz rechtsaußen.

Im Zuge dieser geänderten Rahmenbedingunen änderten sich zugleich die Gewichte innerhalb der rechten Szene. Parteien aus der BRD begannen im unterschiedlichen Maße und mit unterschiedlichem Erfolg, Einfluß auf die DDR-Rechte zu nehmen, insbesondere die DVU, NPD, FAP, NF und - besonders engagiert - die Republikaner. In einem Papier des Westberliner Landesamtes für Verfassungsschutz ("Aktivitäten von Berliner Rechtsextremisten in der DDR") wird in diesem Zusammenahng etwa auf Bemühungen der NPD, zur NDPD der DDR freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen berichtet. "Einige Bezirksverbände der NDPD haben die deutschlandpolitischen Vorstellungen der NPD begrüßt während sich die Parteiführung der NDPD von der NPD auf Distanz hielt." Im Abschnitt "Neo-Nazismus und deutsche Einheit" des gleichen Papiers wird im Zusammenhang mit der FAP und der "Nationalistischen Front" (NF) von Hinweisen berichtet, "daß Berliner Neonazis zunehmend Aktivitäten entwickeln, gezielt Einfluß auf potentielle Interessenten in Ost-Berlin und in der DDR zu nehmen, um neue gesamtdeutsche neonazistische Organisationen zu bilden."

Die Skinheadszene war mit diesen Entwicklungen natürlich nicht bedeutungslos geworden, sondern profilierte sich weiter durch eine Reihe einzelner, militanter Aktionen, wie beispielsweise der Jagd auf linke Demonstranten in Leipzig, dem Verprügeln von VoPos in Ost-Berlin und anderswo. Aber durch das verstärkte Hinzutreten insbesondere der Reps gelang es Teilen der Szene, zusätzlich zur konspirativen Arbeit auch noch legale oder teillegale Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen, die ihre Wirksamkeit und Propagandamöglichkeiten verbesserten. Neben den Schlägertrupps der Skins und den hochkonspirativen Fascho-Gruppen trat damit eine Gruppierung mit "respektablem" Anspruch und Parteicharakter auf die Bühne.

Die Republikaner

Dabei wurde es zunehmend klar, daß in der DDR von einer strengen Trennung der Reps von den Skinheads und Faschos keine Rede sein kann. Große Teile dieser Gruppen betrachten die Reps nicht nur mit Sympathie, sondern unterstützen sie organisatorisch und personell - etwa bei Aktionen am Rande der Leipziger Montagsdemos.

Andererseits wäre es falsch, die Reps ungebrochen als parteiliche Repräsentaion der alten Fascho und Skin-Szene zu betrachten. Bereits ab Februar 1990 gab es öfter deutliche Kritik an den Reps, einschließlich dem Vorsitzenden Schönhuber, und andererseits waren und sind die Reps auch in der DDR alles andere als eine homogene Organisation. Sie funktionieren vielmehr als das, was man eine "rechtsradikale Volkspartei" nennen könnte, als Koalition unterschiedlicher radikal rechter Strömungen, die von demokratisch-nationalkonservativ bis militant neo-faschistisch reichen. Es ist klar, daß sich in diesem Spektrum in Zukunft Klärungsprozesse abspielen werden. Auf der öffentlichen Ebene bemühen sich die Reps, jede mögliche Form von Mäßigung zu demonstrieren. Wichtigster Ausdruck dieses Bemühens ist das im Februar vorgelegte "Wahlprogramm" zur Volkskammerwahl ("Für einen deutschen Weg in die Zukunft") - ein Text, der sich bereits bei der Verabschiedung erledigt hatte, da die Reps inzwischen von der Volkskammer verboten worden waren.

Dieses Programmpapier verschmelzt drei Tendenzen zu einer für DDR-Verhältnisse attraktiven Mischung: Durchkapitalisierung der DDR, um so "den gleichen Lebensstandard, wie er für unsere Landsleute in der Bundesrepublik selbstverständlich geworden ist" zu erreichen; zweitens ein Warenhausangebot ebenso unterschiedlicher wie sinnvoller Forderungen (Menschenrechte, Gewährung von Rechtssicherheit, Verbesserung der Alterssicherung, generelle Trinkwasserkontrollen, alternative Energiequellen, etc.); und drittens ein deutsch-nationaler Gefühlsbrei, der allerdings so dosiert wird, daß das Programm noch als "seriös" durchgehen kann. Trotzdem werden hier die nötigen Stichworte gegeben, die auch dem harten Kern der Rechtsextremen noch symbolisiert, daß die Reps ihnen durchaus nahestehen. "Das Ende des II. Weltkrieges markiert eine gemeinsame Niederlage aller Deutschen" - und nicht nur des Faschismus. "Abzug aller ausländischen Besatzungstruppen vom Gebiet ganz Deutschlands". Schön auch die Textstelle, daß "in deutschem Namen anderen Völkern etwas angetan" wurde, während auch "andere Völker ... nicht frei von Schuld sind".

Die DDR-Reps sind von ihren Praktiken, ihrer Mitgliedschaft und ihrer Programmatik her zweifellos keine neo-faschistische Partei, sie sind vielmehr ein politisches Scharnier zwischen rechts-demokratischen und rechtsextrem-faschistischen Strömungen und bemühen sich, um nationale und nationalistische Positionen herum eine wirksame soziale Koalition des entsprechenden Spektrums zu integrieren. Diese Einschätzung ist allerdings keine politische Entwarnung - im Gegenteil macht diese Scharnierfunktion die Reps politisch noch gefährlicher, als wenn es sich um eine weitere, rechtsextreme Splittergruppe unter anderen handeln würde. Auch die gegenwärtige Krise der Reps ändert daran nichts.

Staatsapparat und rechte Szene



Die Reaktion des Staatsapparates auf den Aufschwung der radikalen Rechten war von Widersprüchlichkeit und Hilflosigkeit gekennzeichnet. Auf der politischen Ebene war die Reaktion klar und unmißverständlich: Anfang Februar sprach sich der Runde Tisch für ein Verbot der Reps aus, die Volkskammer entsprach dieser Position und faßte einen entsprechenden Beschluß. Auch die Tätigkeit von Skins und Faschos fand bei Parteien und Parlament keinerlei Billigung. Anders sah das auf der Ebene der polizeilichen Umsetzung aus. In bestimmten Bereichen der Staatsorgane (wie auch in Teilen der Bevölkerung) gab es traditionell eine stille Sympathie den Skinheads und anderen Rechtsradikalen gegenüber - nicht so sehr deren politischen Ideologien wegen, sondern aufgrund der dort vertretenen Sekundärtugenden Fleiß, Sauberkeit, Ordnung etc, und wegen z.T. gemeinsamer Feindbilder (etwa Punks, Schwule, Ausländer, andere Minderheiten). Es hatte in der DDR schon vor der "Wende" Fälle gegeben, in denen die Polizei oder Stasi sich bewußt passiv verhalten hatten, wenn etwa eine Gruppe Skins gewaltsam gegen Punks ("faul, undeutsch, dreckig") vorgegangen war. Dies war aber nur eine Nebensache. Zugleich waren weite Bereiche des DDR-Staatsapparates - und gerade auch der "Sicherheitsorgane" - seit November/Dezember gelähmt und kaum noch funktionsfähig. Diese Ordnungskräfte waren - und fühlten sich - durch ihre Rolle bis zum Oktober/November weitgehend diskreditiert. Die Rechtslage war unsicher, das alte DDR-Recht praktisch kaum noch anwendbar, neue juristische Grundlagen der Arbeit nicht in Sicht. Es war völlig unklar, ob ein weiteres Durchsetzen von DDR-Recht im Verlauf der bald erwarteten Wiedervereinigung und der Übernahme des Rechtssystems der BRD nicht unerwünscht oder gar riskant sei. Besonders galt das im politischen Bereich. Polizei und andere Organe bemühten sich nach Kräften, jede Handlung im Feld politischer Betätigung zu unterlassen, um nicht selbst in Schwierigkeiten zu kommen. Dazu kam die Tatsache, daß gerade die Polizei in hohem Maße eingeschüchtert war. Selbst bei gewaltsamen Angriffen auf Polizisten (etwa am Prenzlauer Berg in Ost-Berlin) wurde oft schon gar nicht mehr ermittelt, Auseinandersetzungen mit Skinheads lieber aus dem Weg gegangen (- daß diese oft besser durchtrainiert waren, kam hinzu).

Beschlüsse des Runden Tisches oder der Volkskammer wurden daher in bestimmten Bereichen nicht mehr durchgesetzt, etwa das Verbot bundesdeutscher Politiker, am DDR-Wahlkampf teilzunehmen - oder das Verbot der Reps. Dies wiederum hatte ideologische Konfusion zur Folge: zwei DDR-Volkspolizisten in Leipzig erklärten auf mehrfache Frage, warum sie eigentlich die Reps trotz des Verbotes bei ihren Aktivitäten unbelästigt ließen, diese seien doch eigentlich gar nicht verboten, nur Gesetze dürften sie nicht brechen.

Der nationale Taumel

Das Problem in der DDR heute ist, trotz des unübersehbaren Aufschwungs der verschiedenen rechtsradikalen Gruppen, nicht deren bevorstehende Machtergreifung oder ein ähnliches Szenario. Dazu sind diese Gruppen weiterhin zu schwach, zu klein, zu wenig verankert. In diesem Sinne sollten diese Gruppen zwar nicht verharmlost werden, von ihnen selbst geht aber erst in zweiter oder dritter Linie eine Gefahr aus. Das gilt auch für die Rps, die noch am ehesten das Potential aufweisen, mittelfristig massenwirksam werden zu können. Das Hauptproblem besteht vielmehr in der Entwicklung der politischen Atmosphäre in breiten Kreisen der Bevölkerung, insbesondere im Süden der Republik. Hier hat sich eine breite nationalistische Besoffenheit herausgebildet, die der in rechtsradikalen Kreisen kaum nachsteht - selbst wenn man sich nach wie vor von diesen Gruppen distanziert.

Ausländerfeindlichkeit ist beispielsweise in einem schockierenden Maße in der DDR verbreitet. Dies ist um so bemerkenswerter, als in der DDR nur rund 90.000 Ausländer leben. Trotzdem ist es schon keine Ausnahme mehr, wenn Arbeiter aus Angola, Mosambik oder Vietnam, oder wenn Kleinhändler oder Touristen aus Polen zusammengeschlagen werden. Rassismus und Sozialneid sind hier die beiden wichtigsten Triebfedern. Der knappe Wohnraum oder der Mangel an Waren werden oft als Grund für die Feinschaft gegen Ausländer vorgebracht, die Ausländer würden angeblich bevorzugt, wofür aber keine Anhaltspunkte vorliegen. Eher im Gegenteil: auch staatlicherseits wird Diskriminierung praktiziert. Schwarze oder asiatische Ausländer haben offensichtlich am meisten unter rassistisch motivierter Verfolgung zu leiden, Polen und Türken (oft aus Westberlin oder der BRD) wird insbesondere angekreidet, daß sie (im Gegensatz zu vielen DDR-Bürgern) über Westmark verfügen. Ausländer und Westmark: das ist offensichtlich eine besondere Provokation. Schließlich spielt eine Rolle, daß die meisten ausländischen ArbeiterInnen (aber auch StudentInnen) in der DDR in einer Art Kasernierung gehalten werden und zugleich relativ jung sind. Wenn dieser soziale (und sexuelle) Druck dieser Lebensverhältnisse in DDR-Diskotheken auf die einheimische Konkurrenz trifft, sind Konflikte oft programmiert, rechte Ideologen bemühen sich, dies politisch auszunutzen.

Ähnlich mit dem heute verbreiteten nationalen Taumel. Noch ist schwer festzustellen, inwieweit die nationalistischen Stimmungen tatsächlich "nationale" ideologische Wurzeln aufweisen. Zwei Dinge vor allem wollen DDR-Bürger schell: die Zerschlagung all dessen, was nach SED (oder auch nur nach DDR) riecht, und ein wirtschaftliches Niveau wie in der BRD. Antikommunismus und - z.T. verständliche - wirtschaftliche Gier sind die Triebfedern des Nationalismus, die nationale Einheit die Legitimation, möglichst schnell an Westmark zu kommen. In gutem deutschen Geiste wird dieses Bedürfnis nach Wohlstand dann ideologisch überhöht, verkitscht und emotional überfrachtet, und tritt uns dann als nationaler Taumel entgegen. Der Kern dieser nationalen Frage liegt im Scheitern der DDR-Ökonomie, am knappsten auf die Formel gebracht, die auf einem Leipziger Transparent zu lesen war: "Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr".

Jenseits der noch winzigen rechtsradikalen Organisationen hat sich in der DDR inzwischen ein breites und diffuses rechtsradikales Ideologiepotential aufgebaut, dessen weitere Entwicklung noch schwer abzuschätzen ist.

Wolfgang Brück vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig schätzt aufgrund empirischer Studien, daß 10 bis 15 Prozent der DDR-Bevölkerung über ein festgefügtes "rechtsradikales Denkmuster" verfügen, und daß insgesamt bis zu 50 Prozent "rechtsradikale Gefühlsstrukturen" entwickelt hätten. Als Kriterien nennt er Ausländerfeindlichkeit, Nationalismus, Autoritätsdenken, Gewaltbereitschaft, Intoleranz, Sozialdarwinismus und anderes, wobei die "rechtsradikalen Gefühle" diese Elemente eher diffus und unreflektiert, das "rechtsradikale Denken" die gleichen aber systematisiert, durchdacht und in einem Zusammenhang enthalten.

Diese Beobachtungen sind durchaus realistisch, die Veränderungen der Leipziger Montagsdemonstration von anti-diktatorischem Protest zu chauvinistischem Geschrei und nationalistischer Hetze nur ein Indiz von vielen.

Die Elemente rechtsradikaler Ideologie sind in der DDR heute alle vorhanden und z.T. bereits scharf ausgeprägt. Zugleich ist es bemerkenswert, in welchem Maße rechtsradikale Gruppen einschließlich der Reps weiterhin auf massive Ablehnung stoßen. Diese Situation wurde symbolisiert durch eine Situation am Rande einer der Leipziger Montagsdemo: ZuhörerInnen, die sich vor der Oper in einen nationalistischen Taumel hineinschreien und abweichende Meinungen schon für "Volksverrat" halten, brechen 100 Meter weiter in ryhtmische "Nazis raus, Nazis raus!"-Sprechchöre aus (ergänzt von "Ihr seid das Letzte, ihr seid das Letzte"-Rufen), als sie ein Dutzend Reps mit einem Transparent sehen. (Die Reps rufen etwas kläglich zurück: "Wir sind keine Nazis, wir sind keine Nazis!")

Wenige Minuten später ist der anti-faschistische Spuk vorbei, die Deutschtümelei gewinnt wieder Oberhand, dann brechen "Helmut Kohl, das tut wohl" Sprechchöre aus, später "Rote raus". Etwas später: "Rote an die Wand!" Für nationalistische Amokläufe braucht man die Reps oder Skins hier wirklich nicht.

Die ideologische Situation in der DDR ist extrem instabil. Der immer noch vorhandene anti-faschistische Impuls der großen Mehrheit der Bevölkerung (bis in Teile der Reps hinein) stellt kein Hindernis dar, zentrale Ideologieelemente der Rechtsradikalen selbst zu formulieren. Dies kann natürlich kein Dauerzustand sein, dieser labile Gefühlszustand wird nach einer Seite umkippen müssen. Der Verlauf der letzten Monate läßt es nicht ausgeschlossen erscheinen, daß dieses Umkippen nach Rechts erfolgen wird: der rasche und erdrutschartige Stimmungsumschwung von den 60 Prozent SPD-Umfrageergebnissen bis zum Wahlsieg der CDU ist nur ein Indiz. Aufschlußreich auch, wie innerhalb dreier Wochen in Leipzig die Stimmung bezüglich der Reps verändert war: zuerst anti-faschistische und massivste Reaktionen (bis hin zum Verbrennen des ungelesenen Propagandamaterials), dann eine noch immer sehr skeptische Einstellung, die aber zunehmend dahin tendierte, das Rep-Material einzustecken und lesen zu wollen. "Ich bin zwar irgendwie dagegen, aber ich nehm es mal mit. Will mir doch selbst eine Meinung bilden." So eine Reaktion wäre noch ein paar Wochen zuvor kaum denkbar gewesen.

Es geht hier nicht darum, ein völliges ideologisches Abgleiten nach Rechts für unvermeidbar zu halten. Diese Entwicklung ist zwar seit dem Jahresanfang in Gang gekommen, die Unstabilität der ideologischen Lage aber so beträchtlich, daß auch ein umgekehrter Pendelschlag nicht auszuschließen ist - das relativ gute Wahlergebnis der PDS deutet es an. Wichtig ist aber, die Bedeutung der kleinen rechtsradikalen Organisationen in der DDR vor dem Hintergrund der breiten Verankerung rechtsradikaler Gefühlbilder in der Bevölkerung zu betrachten. Wenn sich diese Stimmung nicht mildert wird mittelfristig die Bedeutung der harten Rechten in der DDR zunehmen oder - was noch wahrscheinlicher ist - diese rechten Ideologien werden den größten Teil des gesamten politischen Spektrums durchsetzen und es insgesamt radikal nach rechts verschieben. Die ideologische Substanz des Rechtsradikalismus würde noch weiter hoffähig gemacht und die politische Mitte umdefinieren, bei gleichzeitiger formelhafter Distanzierung von rechtsextremen Organisationen. Und ein Anschluß der DDR an die BRD auf dieser Grundlage wird auch das politische Klima bei uns weiter mit verschieben. Ein neues "Wirtschaftswunder" aufgrund der fälligen Modernisierung und Übernahme der DDR und anderer Teile des bisherigen Warschauer Paktes wird so möglicherweise von einer Wiederauflage der dumpfen Ideologien der fünfziger Jahre begleitet sein.

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