GedankenPlattform
Wednesday, 21. April 2004
Deutschland und sein Neofaschismus

Zwei Sätze über Wanderschaft und Exil

Emigration und Migration sind Worte, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung etwas Freundliches, Angenehmes, Weltoffenes benennen: das Auswandern und Einwandern, also ein Wandern, eine sportliche oder erholsame Tätigkeit, die uns zu einem gewünschten und frei gewählten Ziel bringt, eine durchaus lustvolle Tätigkeit, für die es eigens dafür gedichtete und komponierte Lieder gibt. Man führt dabei gewöhnlich Nahrungsmittel mit sich, die als Wegzehrung gedacht sind, nicht als Alimentation des verbleibenden Lebens. Und der Stock, den der Wanderer in der Hand hält, soll dem unbeschwerteren Vorwärtskommen dienen und ist nicht gedacht als Waffe zur Verteidigung von Gesundheit, Freiheit und Leben.

Wandern, das war, das ist die ursprüngliche Bedeutung dieser Worte, doch sie scheint uns gründlich abhanden gekommen zu sein. Der Emigrant, der Migrant weckt in uns nicht die Assoziation eines den Waldweg entlang ziehenden Wanderers. Längst verbindet sich mit dem Emigranten und Migranten das Vertriebensein. Es sind Menschen auf der Flucht vor einem bedrohlichen Schicksal, auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft, vertrieben dort, unerwünscht hier. Ihr Rucksack enthält kaum genügend Wegzehrung, um das Ziel erreichen zu können, und viel zu wenig Geld, um am Ankunftsort willkommen zu sein. Vor allem aber enthält er die falschen Papiere: zu wenig amtliche Dokumente, um einen Aufenthalt begründen zu können, die überdies befristet sind, so dass diese Wanderer am nächsten Morgen ihr Bündel zu packen und weiterzuziehen haben, denn das Boot ist wieder mal voll, und die Bänke an den Tischen sind längst besetzt. Statt der richtigen und nützlichen Papiere, statt einer unterzeichneten und gestempelten Genehmigung eines Staates und statt der köstlichen Niederlassungsgenehmigung für alle Staaten der Welt, der Banknote, haben diese Wanderer Papiere bei sich, mit denen sie Zeugnis geben wollen, Zeugnis von Bedrohung und Verfolgung, von Intoleranz und Hass, von Mord und Totschlag. Und statt der erwünschten Papiere, nach denen man sie fragte, legen sie ungebeten diese Blätter vor uns hin, verlangen sie, dass wir diese Zeugnisse lesen, um sie zu erkennen, wollen sie sich mit diesen Urkunden ausweisen.

Es sind schwer lesbare Papiere, bedrückende Texte, die wir nicht lesen wollen und inzwischen auch kaum lesen können, denn diese Literatur wirkt auf uns rückständig, zurückgeblieben und hat nichts von unserer inzwischen erreichten Kulturstufe, wonach Texte, wenn sie gelesen werden sollen, unterhaltsam zu sein haben, vergnüglich. Bücher müssen uns Spaß bereiten oder gelten als Makulatur. Wir haben eine Kultur des puren Amüsements erreicht, die wir nicht aufgeben wollen, da stören uns, verstören uns diese Berichte, und wir wehren uns, indem wir sie nicht wahrnehmen. Diese uns vorgelegten Zeugnisse sind, das wollen wir keineswegs bezweifeln, wahr und wichtig, die bezeugten Schicksale sind unstrittig und aller Ehren wert, die sie auch bekommen sollen, aber darüber hinaus wollen wir damit nicht behelligt werden und schon gar nicht soll es unsere Zeit und Aufmerksamkeit kosten.

Wir haben sogar eine gewisse Sensibilität für diese Leute und ihre Berichte, denn vor vielen Jahren, in einer grauen Vorzeit, waren, wir erinnern uns dunkel, einige aus unserem Volk in einer vergleichbaren Situation, doch schon damals waren sie uns lästig. Nun aber haben wir eine Demokratie, die wir als stabil und gefestigt bezeichnen, und eine moderate Lebensweise entwickelt. Wir sind gegen die Umwelt und gegen die Natur, selbst gegen die eigene Natur, versichert, und Schicksal nehmen wir nur als gleichfalls rundum versichertes Adventure in Anspruch, als einen Abenteuerurlaub, der uns umso deutlicher die erreichten Sicherheiten erkennen lässt. Noch haben wir den Tod und ein paar Krankheiten nicht eliminieren können, da sind noch ein paar Bausteine des Lebens zu entschlüsseln, bevor wir völlig unbeschwert uns einem dann tatsächlich unendlichen Vergnügen hingeben können. Doch auch solange wir noch von Sterblichkeit bedroht sind, wollen wir uns lieber zu Tode amüsieren als zu Tode langweilen. Und diese Wanderer und ihre Zeugnisse langweilen uns. Es sind gewiss gute Menschen und tapfere Kämpfer, sie haben viel hinter sich und ebenso sicher noch viel vor sich, sie wurden vom Schicksal geschlagen, und das ist leider nicht sehr amüsant, nicht amüsant genug, um uns zu interessieren.

Diese Emigranten und Migranten sind keine Wanderer, mit denen wir uns gern zu einem Bier setzen, um uns mit ihnen zu unterhalten. Ihrer Wanderschaft ist das Brandzeichen der Verbannung aufgeprägt, es sind Exilsuchende, das erschwert uns die Verständigung mit ihnen, denn wir haben unser Leben auf einen anderen Ton eingestimmt. Wir achten diese Menschen und sind bereit, sie zu ehren, aber darüber hinaus ist es wünschenswert, sie aus unserem Leben zu halten. Wir sind sogar bereit, sie finanziell etwas zu unterstützen, wir sind keine Unmenschen und überweisen fast gern eine kleine Summe auf ein angegebenes Konto. Doch schon mit Dankesbekundungen ihrerseits bitten wir, uns zu verschonen. Exil ist ein Stigma und kein Entrée. Unser eigenes Leben ist schwierig genug, wir haben Mühe, es erfolgreich oder auch nur hinreichend zu überstehen und können uns daher nur sehr eingeschränkt noch um andere kümmern, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, selbst unterzugehen.

Das 20. Jahrhundert hat uns mit verschiedenen Grundsätzen und Lebenskonzeptionen konfrontiert, von denen die meisten scheiterten und heute nur noch lächerlich sind. Eine einzige Lehre hat sich als beständig und dauerhaft erwiesen, und wir haben diese Lektion gelernt, die da lautet: für alle reicht es nicht. Auch Almosen und Krümel sind ein Teil jenes Kuchens, vor dem so viele Esser hocken und darauf warten, ihren Teil zu bekommen. Auch die Krümel, hat ein Kassensturz ergeben, werden nicht für alle reichen.

Diese Wanderer suchen ein Exil, sie brauchen ein Exil, sie werden es bei uns nicht finden. Wir werden ihnen ein sicheres Drittland nennen, in dem sie ihre nutzlosen Papiere vorlegen können. Aber die Wanderer sollten sich keinen Illusionen hingeben: dieses sichere Drittland existiert so real wie der Dritte Weg, es ist eine Landschaft auf der Weltkarte Utopia, auffindbar mit dem Kompass Prinzip Hoffnung. Das Ziel dieser Wanderer ist ein Ort für ihr Exil, der Weg wird ihr Schicksal sein.

Wo und wann beginnt das Exil? Der Fluchtort ist das Ende, der Anfang aber liegt in einem ganz gewöhnlichen Leben, einer gewöhnlichen Stadt mit gewöhnlichen Leuten und beginnt unübersehbar und erkennbar an dem Tag, an dem einer »Der da« sagt und mit dem Finger auf jemanden zeigt und andere diesen Ruf aufnehmen und diesen einen auszugrenzen beginnen, weil er »auffällig« ist, aus rassischen oder religiösen Gründen, aus ideologischen oder kulturellen.

»Wenn man sich in der Schule prügelt, ist das in Ordnung«, sagte Ivan Nagel, »wenn man von drei, vier Mitschülern einmal in der Woche als Jude verprügelt wird, verletzt das Wort tiefer als die Schläge.«

Von diesem Schulhofstreit, noch unentschlossen schwankend zwischen bösartiger Schülerlaune und einem sich verfestigenden, irrationalen Hass, führte eine direkte Linie zu Mord und Völkermord, führt der Weg noch heute zu tödlichem Hass, zu Totschlag und Mord.

Doch noch bevor jemand den Finger ausstreckt und eine Person oder eine Gemeinschaft verstößt, ausstößt, zum Paria erklärt, muss es eine Ursache geben, eine Quelle, einen bewegenden Grund. Sicherlich sind es keine glücklichen, keine mit sich zufriedenen Menschen, die so viel Hass in sich tragen und ihn ausleben müssen. Es sind Unglückliche, die einen Schuldigen für ihr Unglück suchen, und sie sind nicht fähig oder nicht bereit, bei dieser Suche einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen. Sie brauchen eine andere Person, eine Menschengruppe, sie brauchen einen Mitmenschen, in dem sie die Ursache ihres Unglücks ausmachen können.

In Deutschland machen sich wieder Rassismus und Ausländerhass bemerkbar. Geradezu regelmäßig und fast wöchentlich werden Gewaltakte und auch mörderische Übergriffe gegen Personen gemeldet, die als nicht zu unserem Land und unserem Volk gehörig, als fremd empfunden und bezeichnet werden. Die Politiker und die Parteien sind besorgt. Gesellschaft und Medien haben sich auf eine Erklärung verständigt, wie dieses fatale Aufleben von überwunden geglaubten faschistoiden Haltungen zu bewerten sei, ohne selbst Schaden zu nehmen. Der Rechtsradikalismus und die Fremdenfeindlichkeit gelten ihnen als ein Problem Ostdeutschlands, einer zurückgebliebenen Region des Landes, mit der man wenig, mit der man eigentlich nichts zu tun hat.

Richtig ist, dass es erschreckend viele Gewalttaten im Osten gibt, dass hier ein Komplex von Minderwertigkeit und Zweitrangigkeit, gespeist durch Arbeitslosigkeit, durch Gefühle von Deklassierung, durch Demütigungen und durch Orientierungslosigkeit diesen Rechtsradikalismus förderte. Und diese Jugendlichen haben eine Erfahrung gemacht, die wir ihnen nicht ausreden, nicht wegreden können, die zwiespältig ist und bedrückend. Plötzlich, sagen sie, werden wir akzeptiert, man nimmt uns ernst. Zum ersten Mal werden sie ohne Herablassung oder entwürdigendes Mitleid wahrgenommen. Sogar mit Furcht und Entsetzen, so sehr respektierte man sie, seit sie das Land und die Medien und das Ausland beunruhigen. Jetzt haben wir gleiche Augenhöhe, sagte einer zufrieden, endlich.

Investoren wurden verschreckt, hieß die alarmierende Meldung der Politik und der Wirtschaft. Ich fürchte, diese Schreckensmeldung wird bei den Rechtsradikalen eher als Triumph gefeiert. Wurden aber nur Investoren verschreckt und abgehalten, nach Deutschland zu kommen? Eine Meldung »Asylsuchende wurden verschreckt« las ich nirgends, doch sie, die allerersten Opfer dieser Gewalt, werden doch auch entsetzt reagiert haben. Fehlte die Meldung »Asylsuchende wurden verschreckt«, weil es eine Abschreckung wäre, die in Deutschland weniger Empörung auslösen würde, möglicherweise sogar »klammheimliche Zustimmung«?

Die fremdenfeindlichen Übergriffe sind durchaus nicht auf Ostdeutschland beschränkt, und es ist unsinnig und heuchlerisch, es ist verlogen, ein gesamtgesellschaftliches Problem zu einer lediglich regionalen Schwierigkeit ummünzen zu wollen. Auch aus westdeutschen Kommunen kommen regelmäßig solche Meldungen. Mehr noch, Struktur und Aufbau, die gesamte Logistik, die entsprechenden Parteien und der Parteienapparat kommen aus der ehemaligen Bundesrepublik. Die Neonazis hatten lediglich vor den Politikern begriffen, dass sich im Osten ein Potential an Selbsthass und Selbstverachtung aufbaute, hervorgerufen aus Demütigung und Entwürdigung. Hier konnten ihre Parolen schneller und durchdringender greifen, als in dem wirtschaftlich stabileren Westen. Die Neonazis erkannten rasch, dass in den blühenden Landschaften von Frustration ihre Saat gut sprießen kann. Wenn nun schönfärberisch die Gewalttaten im Westen übersehen und als Einzelerscheinung abgetan werden, wenn der Rechtsradikalismus als peinliches Problem Ostdeutschlands ausgemacht wird, mit dem die eigentliche Bundesrepublik nichts zu tun hat, peinlich vor allem der Reaktionen des Auslands wegen, dann ist man wohl weniger bereit, sich dem Problem zu stellen und es offen anzugeben, als es rasch zu verstecken, in einer Schmuddelecke abzulegen, mit der man recht eigentlich nichts zu tun hat. Dann könnte unter der Hand, unter diesem Teppich des Selbstbetrugs in Deutschland etwas heranwachsen, was nicht nur Investoren abschreckt.

Bevor jemand einen vermeintlich Schuldigen ausmacht, auf ihn weist und ihn ausgrenzt, muss es eine Bereitschaft für diese Ausgrenzung geben, muss es Demütigung und Entwürdigung geben, die zu Selbsthass und Selbstverachtung führen, die schließlich den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit erzeugen.

Wie kommt es zu Antisemitismus in deutschen Ländern, in denen kaum noch Juden leben? Wie kommt es zu Fremdenfeindlichkeit selbst in Gegenden, wo fast keine Ausländer wohnen? Wie fokussiert sich ein anfangs undeutliches, eher dumpf brodelndes als bewusst begriffenes Gefühl auf eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft? Elternhaus und Umfeld, heißt es, würden die Jugendlichen in eine bestimmte Richtung lenken. Das mag sein, die deutschen Stammtische, die Stammtische in ganz Deutschland waren gewiss nicht die Wiege und sind nicht der Hort von Aufklärung und Toleranz. Möglicherweise liegt hier eine der Ursachen, brodelt das gesamte zwanzigste Jahrhundert mitsamt der faschistischen Ideologie noch immer unter dem Boden unserer Demokratie.

Gelegentlich zeigen sich ein paar Blasen dieses eruptiven Gemisches, kommen ein paar Wortfetzen und Sätze an die Oberfläche, die uns die dünne Decke deutlich machen, auf der wir uns bewegen. Wenn wir die Protokolle des Bundestages und der Landesparlamente aus den letzten Jahrzehnten durchgehen, nähern wir uns den eigentlichen Anfängen dieser Entwicklung, die uns heute beunruhigt. Von diesen höchsten Volksvertretern kamen jene Wortschöpfungen, die sich in unserer Alltagssprache festsetzen, Eingang in unsere Gesellschaft fanden, Worte wie »Asylanten« und »Sozialschmarotzer«. Von ihnen kamen die Parolen »Deutschland ist kein Einwandererland« oder »Kinder statt Inder«. Hier, in den Protokollen der ehrenwerten Volksvertreterversammlung und der Staatsgewalt finden wir die Samenkörner jener Saat, die jetzt in Deutschland erblühte.

»Geht einmal euren Phrasen nach«, heißt es bei Georg Büchner, »geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.«

Die gleichen Leute, die diese Parolen und Sprüche unter das Volk brachten, zeigen sich nun erschreckt und denken über ein Verbot rechtsradikaler Parteien nach. Es mag vorkommen, dass ein Landwirt im Spätsommer über die aufgegangene Saat erschrickt, die er im Frühjahr selbst aussäte, aber dann ist das ein schlechter Bauer, der nicht zu wirtschaften versteht und falsch am Platz ist und ihn räumen sollte.

Ich weiß nicht, ob ein Parteienverbot die Probleme einer Gesellschaft lösen kann, ob sie wirklich verschwinden, wenn man sie hinter Gitter bringt. Möglicherweise will man diese Parteien auch nur verbieten, um die Stimmen jener Wähler zu bekommen, an deren staatsbürgerlicher Meinung man schließlich beteiligt war.

"Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden."

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