GedankenPlattform
Thursday, 13. May 2004
Der Traum der Nacht

Melancholisch, getrieben von Wünschen, Träumen und Ängsten, verrinnt die Schicksalszeit. Gewöhnt daran hab ich mich noch nicht. Weder ans Wünschen, noch ans Träumen, schon recht nicht ans Angsthaben. Vielleicht wenigstens ans Mitleben?
Morgen geht es also los, alle Regeln, alle Einschränkungen, alle Ordnungen sind aufgehoben. Ein neuer Tag fängt an und ich fliege mit, den Sitzplatz in der ersten Reihe. Die Sicht zurück ist klar und deutlich nur vor mir eine große Nebelbank.
Helle und dunkle Wolken aus dichten Wassertröpfchen malen einen Denktraumwunsch an die Scheibe. Undurchdringbar, sichtbar Unsichtbar die Welt, die Zeit da vorn, vor mir. Wird die Wolke platzen und alles nach unten fallen?
Was ist wenn alles so schnell vorbei ist wie es begann? Der zweifelnder Tropfen auf der Scheibe da vorn, er lächelt mich an und schweigt. Er sagt nichts, er klopft ganz leise und lässt die Zeit vergehen. Mit einem Fingerschnipps Lebenserkenntnis auf den Weg geschickt und das ohne Regenschirm.
Oder sollte ich lernen, im richtigen Augenblick die Augen vor der Welt zu verschließen. Da es keine bleibenden Antworten auf die wichtigen Fragen:
"Warum lebe ich?",
"Was wird morgen sein?",
oder
"Bleibt die Liebe?" geben kann, sollte ich diese auch nicht stellen.
Solche Fragen lenken nur von dem ab, was im Leben einzig bedeutsam ist. Wir müssen uns täglich einreden, dass unser Leben ein ständiges Fest und ein immer währender Sommer ist, dann haben wir eine kleine Chance glücklich zu sein.
Nur wenn wir mit einem Lächeln oder besser noch mit einem lauten Lachen durch die Welt marschieren, können wir sie eventuell auch nüchtern ertragen, diese Welt!

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Exkurs über den Zeitsinn

Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremden Orte, dieser -sei es auch- mühseligen Anpassung und Umgewöhnung. welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum daß sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhängen des Lebens ein, und zwar zum Zweck der >Erholung<, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr körperlich-geistige Ermüdung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf sie beruht (denn für diese wäre ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, - welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefühle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, dass das eine nicht geschwächt werden kann, ohne dass auch das andere eine kümmerliche Beeinträchtigung erführe. Über das Wesen der Langenweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man glaubt im ganzen, dass Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit „vertreibe“, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und „langweilig“ machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so dass ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich herbläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Art und Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muß auch das auf Gewöhnung beruhen. Wir wissen wohl, dass die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unserem Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Das ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badreise, der Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, - es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man „sich einlebt“, macht sich allmähliche Verkürzung bemerkbar: wer am Leben hängt oder, besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüchtigkeit. Freilich, wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen und als sei die Reise der Traum der Nacht.

© Thomas  Mann aus:  "Der Zauberberg"

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